Zwei Mädchen gehen einen Flur entlang. Sie wenden dem Betrachter den Rücken zu. Die Keinere neigt ihren Körper leicht nach rechts, der größeren Schwester zu. Diese hält, mit leicht nach links geneigtem Körper die Hand der Kleinen umfasst. Beide tragen winzige Köfferchen in der jeweils freien Hand, beide tragen fast gleiche Kleider, festes Schuhwerk.

Das Bild ist am 16. November 1938 im „Gooi-en Eemlander“, der in
Naarden/Holland herausgegebenen Zeitung unter der Überschrift:
„Geflüchtet vor den deutschen Pogromen“ erschienen. Der Text dazu lautet:
„Unter der Kindergruppe von deutschen Kindern, die liebevoll im
Waisenhaus zu Naarden aufgenommen wurden, sind auch zwei Schwestern. Hier in der ,Kubel‘, in den sicheren Mauern dieses Zufluchtsortes, sind sie unerreichbar für die Männer aus dem Pogrom-Land.“
Die beiden Mädchen sind Ruth und Liesel Hess, die mit dem ersten
Kindertransport aus Frankfurt am 15. November 1938 nach Holland fliehen konten. Der Zeitungsausschnitt ist in Helga krohns Beitrag „Holt sie heraus“ von Helga Krohn abgedruckt (siehe unten, Literatur). Ruth Levi, geborene Hess, hat ihn zur Verfügung gestellt.

II

Nach den Novemberpogromen 1938 sah Chamberlain die Schwäche seiner Appeasement-Politik ein. Zudem stand er der steigenden Einwanderung nach damals Palestina wegen unter Druck. Am 15. November empfing er eine Delegation des britischen Council for German Jewry, die in aufforderte, eine nicht begrenzte Zahl von Kindern nach Großbritannien einreisen zu lassen. Seine zustimmende Entscheidung wurde ihm dadurch erleichtert, dass das Council versicherte, die Kinder würden keine öffentlichen britischen Gelder in Anspruch nehmen und überdies später weiter in andere Länder emigrieren. Für die Zeit des Aufenthaltes in Großbritannien stellte es Garantiesummen für die Reise- und Umsiedlungskosten der Kinder in Höhe von 50 Englischen Pfund pro Kind (nach damaligem Wert rund 1.500 Euro) und versprach, die Kinder im Land zu verteilen und ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen.

Der Begriff „Transmigrant“ war geboren.

Im Anschluss an diese Unterredung handelten Premier und Parlament tatsächlich sehr schnell: Sie lockerten die abweisenden
Einreisebestimmungen indem die Kinder ohne Pässe auf Grund von
Kollektivvisa aufgenommen wurden. Die anfänglich auf 5.000 festgelegte
Aufnahmequote wurde später auf 10.000 erhöht. Die damit verbundenen
Erwartungen des nachlassenden Einwanderungsdrucks auf Palestina und der Änderung der USA-Einreisebestimmungen, erfüllte sich allerdings nicht.

Auf britischer Seite organisierte das „Movement for the Care of Children“ (MCC – später Refugee Childrens Movement) die Kindertransporte, auf deutscher die (damals noch) „Reichsvertretung der deutschen Juden“, Abteilung Kinderauswanderung, in Berlin. Schwerpunkt der Organisation im süddeutschen Bereich war Frankfurt am Main, sprich die dortige jüdische Wohlfahrtspflege unter der Leitung von Martha Wertheimer.
In Wien verhandelte neben der IKG (Israelitische Kultusgemeinde) zeitgleich Geertruida Wijsmuller-Meyer, eine einflussreiche holländische Bankiersfrau, erfolgreich mit Eichmann über die Duldung der Transporte.

Im Dezember 1938 überquerten die ersten Kindertransporte – der Name setzte sich fest – die holländische Grenze. über Hoek van Holland oder Enschede wurden die Kinder weiter nach Harwich geleitet.

III

Viele der Kinder hatten die Vorbereitungen zur Abreise zu Hause miterlebt, nicht ahnend, dass sie nun alleine davonfuhren. Je jünger sie waren, desto weniger verstanden sie die Umstände der oftmals überstürzten Flucht. Sie durften nur einen Koffer, eine Tasche und zehn Reichmark und ein Photo mitnehmen; keine Bücher, keine Spielsachen, selten eine Puppe oder einen Teddybären. Um Aufsehen zu vermeiden, durften die Eltern sich nicht am Bahnsteig verabschieden.

Die Verständigen unter den Kindern ahnten, dass dies eine Flucht aus dem Hass für lange Zeit war; sie hatten Ausgrenzung, Verachtung und physische Gewalt erfahren. Manche der Kinder betrachteten die Reise als Ausflug, als Abenteuer. Viele der Kleineren glaubten, dass ihre Eltern sie nicht mehr lieb haben würden und sie davon schickten. Etliche weinten fast die gesamte Reisezeit.

In England angekommen, standen häufig schon die Pflegeeltern bereit, die Kinder sofort mitzunehmen. Gruppen, die aus einem Kinderheim kamen, wurden auseinander gerissen. Jene, die nicht in eine Familie aufgenommen worden waren, wurden in angemieteten, zumeist billigen Hotels untergebracht. Ab Frühling 1939 wurden auch Feriencamps an der Küste als Unterkunft genutzt, vor allem, wenn ein Transport mit Gefährdeten ankam, also Kinder oder Jugendlichen aus Heimen oder deren Eltern in Deutschland interniert waren. Auch staatenlose, von Ausweisung bedrohte Kinder; sie alle hatten zur Zeit der Abreise noch keinen Bürgen oder eine Familie in
England, die sie aufnahm. Hübsche, blonde, anpassungsfähige und vor allem kerngesunde Kinder fanden am leichtesten Aufnahme. Körperlich oder geistig kranken Kindern gab kaum jemand eine Chance.

Anfänglich konnten Kinder und Eltern sich noch Briefe schreiben. Doch nach dem 1. September 1939, dem Überfall auf Polen, war direkter Briefverkehr zwischen Deutschland und England nicht mehr möglich. Die Kontakte wurden spärlicher. Mit Beginn der Deportationen rissen sie endlich ab, auch wenn hin und wieder noch ein Formbrief über das Rote Kreuz nach England durch kam.

Den Kindern wurde klar, dass sie ihre Eltern lange Zeit nicht wiedersehen würden. Plötzlich wurde ein von der Mutter zusammengelegtes Handtuch, ein damals für die Reise gekaufter Pullover oder das feste Schuhwerk zum Haltepunkt in einer Welt, in der Kinder den Boden unter den Füßen verloren.

IV

Sie hatten Glück, aber sie waren nicht glücklich. Während viele der Kinder in liebevolle Familien durch die gesamte Zeit des zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden, erlebten andere Kinder Ausbeutung, Abweisung und nicht nur körperliche Kälte.

Schon mit Ausbruch des Weltkrieges wurden Kinder in Flüchtlingslager
abgegeben, andere lebten in bis zu sieben verschiedenen Familien bevor
sie zwölf Jahre alt waren. Ein Junge aus Fulda wurde von seinem
Geographie-Lehrer als „Preussisches Schwein“ beschimpft („Er hatte keine Ahnung von Geographie, sonst hätte er gewusst, dass Fulda nicht in Preussen lag“), andere wurden von ihren Mitschülern als „Nazi und Jude“ beschimpft.

Das offizielle Ende der Kindertransporte war mit dem 1. September 1939 gegeben. tatsächlich aber erfolgte der letzte bekannte Kindertransport durch den niederländischen Frachter „SS Bodegraven“, der mit 80 Kindern an Bord am 14. Mai 1940 unter deutschem Maschinengewehrfeuer von I Jmuiden aus den Kanal überquerte und schließlich in Liverpool landete.

Insgesamt wurden durch die Kindertransporte etwa 20.000 Kinder und Jugendliche nach England, in andere westeuropäische Länder, die USA und Canada gerettet. Davon blieben annähernd 10.000 (9354) in England. Etwa 2.000 von ihnen waren in zum Protestantismus, Katholizismus konvertierte oder in konfessionslose Familien hineingeboren worden. Gleichwohl galten sie den Nazis als Juden. Für sie übernahmen die Kirchen und die Quäker in Absprache mit den jüdischen Hilsorganisationen Organisation und Kosten.

Als die Kinder älter wurden, musste das Problem der Vormundschaft geklärt werden. 1944 erklärte ein Vormundschaftsgesetz den RCM (Refugee Childrens Movement) für alle Kinder, die in seiner Obhut waren, so lange verantwortlich, bis das letzte der Kinder 21 Jahre alt sein werde. Als nach dem Krieg deutlich wurde, dass die meisten der Kinder ihre Eltern nie mehr wiedersehen würden, bot das britische Inneministerium ein vereinfachtes erfahren zur Annahme der britischen Staatsbürgerschaft an. Viele der „Kindertransportees“ nahmen es in Anspruch und blieben dort.

Nahezu alle der Geretteten waren letzlich für ihr Überleben dankbar.

Nahezu alle der Überlebenden haben nie mit ihren Kindern darüber
gesprochen.

Aus Fulda und Umgebung sind zehn Kinder durch Kindertransporte gerettet worden:

  • Arno Goldschmidt
  • Manfred Grünspecht
  • Josef Hess
  • Ilse Judith Hess
  • Rosi Nordhäuser
  • Fritz Rapp
  • Fritz Steinberger
  • Susi Weinberg
  • Margot Wertheim
  • Kurt Naftali Wertheim

Unter den aus Fulda Deportierten waren 33 Kinder zwischen drei Monaten und sechzehn Jahren alt.

Rosi Nordhäuser, Fritz Rapp und Fritz Steinberger sollten ihre Eltern nie wieder sehen.

Mehr, weit mehr über Kindertransporte ist in folgenden Büchern und dem Film zu erfahren:

  • WOLFGANG BENZ, CLAUDIA CURIO, ANDREA HAMMEL (Hrsg.): Die Kindertransporte 1938/39. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 2003. 253 Seiten
  • Bertha Leverton and Shmuel Lowensohn (Ed.): I CAME ALONE, The stories of the kindertransports. The BOOK Guild, Lewes.
  • Rebekka Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39. Campus Verlag
  • Helga Krohn, „Holt sie raus, bevor es zu spät ist!“. Hilfsaktionen zur Rettung jüdischer Kinder zwischen 1938 und 1940, in: Monica Kingreen (Hg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts,Bd. 17), Frankfurt am Main 1999
  • Film von Mark Harris (Regisseur) und Deborah Oppenheimer (Produzentin): „Into the Arms of Strangers: Stories of the Kindertransport“